Kulturerbe auf der Kurische Nehrung

Die Kurische Nehrung ist eine 98 km lange, schmale Landzunge, die das Kurische Haff im Osten von der Ostsee im Westen trennt. Ihr südlicher Teil liegt in der Kaliningradskaya Oblast‘ (Russland), ihr nördlicher Teil in Litauen. Sie stellt eine einzigartige und verletzliche Kulturlandschaft dar, die von der UNESCO im Jahr 2000 zum Welterbe erklärt wurde. Die Nehrung wurde durch das Meer, den Wind und menschliche Aktivitäten geformt. Die Geschichte der Nehrung begann vor ca. 5.000 Jahren, als sich entlang von Moräneninseln Sand ablagerte und ein langgetreckter Dünenrücken entstand, der das Kurische Haff von der Ostsee abtrennte. Später bildete sich Wald auf der Nehrung und erste Siedlungen entstanden. 

Nach intensiver Abholzung im 17. und 18. Jahrhundert begannen die Dünen in Richtung des Kurischen Haffs zu wandern und begruben die ältesten Siedlungen. Um die Wende zum 19. Jahrhundert wurde klar, dass ohne sofortige Maßnahmen keine menschliche Besiedlung mehr möglich sein würde. Zunächst wurde ein schützender Dünenkamm entlang der Meeresküste errichtet, der die Wanderung des Sandes ins Landesinnere verhindern sollte. Danach wurden die an der Haffseite gelegenen großen Sanddünen mit aufwendigen Verfahren aufgeforstet. Heute dominieren auf der Kurischen Nehrung Wälder und die noch verbliebenen Sanddünen. Siedlungen bedecken nur etwa 6 % der Fläche.

Bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war die Nehrung eine periphere Landschaft, die wenig Beachtung fand. Aufgrund der ungünstigen natürlichen Bedingungen hatte die Nehrung schon immer eine geringe Einwohnerzahl, die sich auf wenige Dörfer konzentrierte und hauptsächlich vom Fischfang lebte. Während die Nehrung ursprünglich von Menschen baltischer Herkunft besiedelt war, siedelten sich im Mittelalter deutschsprachige Kolonisten vor allem im südlichen Teil an. Ab dem 16. Jahrhundert kamen Einwanderer aus dem lettischsprachigen Kurland hinzu, die als sogenannte Kuren bald die Mehrheit der Bevölkerung auf der Nehrung ausmachten. Ab dem 18. Jahrhundert kam es zu einer verstärkten Zuwanderung aus anderen Teilen Deutschlands und von Litauern aus dem litauischsprachigen Teil Ostpreußens. Auf diese Weise entstand eine ethnisch gemischte Bevölkerung, die maßgeblich von den kulturellen Traditionen der weitgehend isolierten Kuren und deren Fischereihandwerk geprägt war. Trotz der einsetzenden Germanisierung, wie sie ab dem 19. Jahrhundert durch Schule, Militärdienst und zunehmende Verbindungen zum Festland begünstigt wurde, konnten viele dieser Traditionen bis zum Zweiten Weltkrieg überleben.

Auch überregional zog die Nehrung seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmende Aufmerksamkeit auf sich. Als Landschaft von besonderer Eigenart wurde sie als „preußische Sahara“ beschrieben und weckte das Interesse von Naturforschern und Bildungsreisenden wie Gottlieb Behrendt, Albert Bezzenberger, Wilhelm und Alexander von Humboldt oder Ludwig Passarge. Um die Jahrhundertwende kamen die ersten Touristen auf die Nehrung. Und auch die Künstler entdeckten die Nehrung für sich. So entstand noch vor dem Ersten Weltkrieg in Nidden eine Künstlerkolonie von überwiegend expressionistischen Malern. Und Ende der 1920er Jahre bezog auch Nobelpreisträger Thomas Mann ein Sommerhaus auf der Nehrung. 

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg änderten sich die politischen, ethnischen und wirtschaftlichen Verhältnisse auf der Kurischen Nehrung grundlegend. Die Nehrung wurde in die Sowjetunion eingegliedert, wobei der südliche Teil nun zur RSFSR und der nördliche Teil zur LSSR gehörte. Zugleich wurde die Nehrung neu besiedelt. Die neuen Bewohner kamen hauptsächlich aus anderen Teilen Litauens im Norden und aus dem russischen Teil der Sowjetunion im Süden. Die ehemalige Bevölkerung war bereits Ende 1944 evakuiert worden oder Anfang 1945 geflohen. Im Gegensatz zum südlichen Teil der Nehrung war es in der Nachkriegszeit für ehemalige Bewohner noch möglich, als Autochthone in den litauischen Teil der Nehrung zurückzukehren. Die wenigen Familien, die von dieser Möglichkeit Gebrauch machten, wanderten jedoch in den folgenden Jahrzehnten aufgrund der veränderten Bedingungen größtenteils nach Deutschland aus. Die veränderten politischen Bedingungen wurden von grundlegenden Veränderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen begleitet. Fischereikolchosen ersetzten die ehemals unabhängigen Einzelfischer, und die Unkenntnis über die besonderen Bedingungen und Traditionen der Fischerei im Kurischen Haff führte zur Einführung völlig anderer Fangmethoden.

Das Jahr 1945 markierte somit einen tiefen Einschnitt in die jahrhundertelange Entwicklung der Traditionen der Nehrungsbewohner und ihrer Identifikation mit ihrem Lebensraum. Trotz dieses historischen Bruchs sind bis heute vielfältige Zeugnisse des Kulturerbes ihrer früheren Bewohner erhalten geblieben.